Was in Jochen Wagners Arbeit Heiligtum wie ein Fehler aussieht, ist in Wahrheit das Bewahren eines kreisrunden Stückchens Utopie. Indem er nämlich über mehrere Monate Herman de Vriesʼ Sanctuarium mit einem handelsüblichen Flachbettscanner einscannt, sucht er genau die Grenze ab, die das Außen konstitutiv für das von de Vriesʼ heilig befundene Innere anerkennt.1
Denn als de Vries 1993 nahe des Stuttgarter Pragsattels ein Stück Land umzäunt, macht er das mit mehrfachem utopischem Verweis: Zum Einen legt de Vries einen Ort an, in dem die Natur anarchisch wachsen darf. Weil er die Natur im Namen der Kunst bändigt, räumt er ihr den Schutz ein, sich frei zu entfalten. So macht – paradoxerweise – erst die Kulturdiesen Ort zum Sanctuarium für die Natur. 2
Zum Anderen bedient de Vries sich einem der menschlichen Kultur so vertrauten Bild, das dieses Sanctuarium buchstäblich zum Heiligtum macht: Ob im antiken Gewand als locus amoenus auf das Elysium, oder im christlichen Gewand als hortus conclusus auf den Garten Eden 3 verweisend, verspricht eine von allen irdischen Schmerzen befreite Natur idylle unendlichen Frieden. 4 Den kann man am Pragsattel gut brauchen. Irdischer Schmerz ist hier allgegenwärtig. Feinstaub, Lärm und Hektik machen ihn sinnbildlich zum Dorn im Auge Stuttgarts – zur paradiesfreien Zone und damit zum unmittelbaren Gegenstück von de Vriesʼ Sanctuarium. 5
Doch nicht nur der Prozess des Scannens macht das Bewahren dieser kleinen Utopie so eindrücklich. Vorallem die »Fehler«, die bei diesem Prozess entstehen, unterstützen die von de Vriesʼ suggerierte Lesart, denn wie alle Scanarbeiten von Jochen Wagner erscheint auch diese entrückt: Das mysteriöse Schwarz wirkt verlockend; die sich um de Vriesʼ stählernen Zaun rankenden Pflanzen wie aus einer anderen Welt. Dies betonen so wohl die ins Violett changierenden Blätter zusammen mit dem Gold der lanzenartigen Zaunspitzen 6 als auch verschwommene Stellen, die umso intensiver das Dunkel, aus dem die Natur hervortritt, als obskur ausweisen. 7 De Vriesʼ Wunschbild der wilden, sich nun seit mehr als zwanzig Jahren ihren Raum zurück erobernden Natur bekommt hier noch stärker eine irreale, ja beinahe endzeitliche Färbung. Außerdem verraten diese unwirklich erscheinenden Scans erst zusammen gesetzt ein Bild des großen Ganzen (Heiligen), vermögenes aber nie in seiner vollenPracht abzubilden. Und so machen gerade diese vermeintlichen Fehler nicht nur in dieser Scanarbeit von Jochen Wagner das regelrechte Absuchen zum utopischen Einfangen eines Moments für die Ewigkeit.
Text: Nicola Höllwarth
1 Vgl. Norbert Wokart, »Differenzierungen im Begriff ›Grenze‹. Zur Vielfalt eines scheinbar einfachen Begriffs«, in: Richard Faber und Barbara Naumann (Hrsg.), Literatur der Grenze – Theorie der Grenze,Würzburg 1995, S. 275 – 289, hier S. 279.
2 Etymologisch ist aus dieser schützenden Umfriedung das Wort »Garten« abgeleitet. De Vries umfriedet aber nicht den kultivierten Landschaftsaum, um ihn von der wilden Natur abzutrennen, sondern grenzt im Gegenteil wilde Natur ein, um sie vom kultivatorischen Eingriff des Menschen zu schützen. Streng genommen ist de Vriesʼ Sanctuarium also kein Garten. Vgl. NilsBüttner, Gemalte Gärten: Bilder aus zwei Jahrtausenden, München 2008, S. 17.
3 Gemäß der Bibel ist der Ursprungsort der Menschheit das Paradies: Ein Garten. Dass allgemein für einen umgrenzten Gartenbezirk im Lateinischen das Wort paradisus verwendet wird, bestärkt zudem die sinnbildliche Verbindung zwischen Paradies und Garten. Vgl.Büttner, S. 17.
4 Vgl.Hildegard Kretschmer, »Paradies/Garten Eden«, Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, Stuttgart 2016, S. 314; Vgl. auch Büttner, S. 17, 26 und 36.
5 Wie stachelige Disteln sind Dornen Symbol des irdischen Schmerzes, Mühsals und Leidens. Insbesondere im Kontrast zu marianischen Sinnbildern verweisen sie auf ein sündhaftes Leben: So wachsen – laut Legende – der Rose erst nach dem Sündenfall Dornen; und so wird die Jungfrau Maria als »Lilie unter Dornen« beschrieben. Vgl. »Dorn, Dornzweig«, Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, S.84; Vgl. auch Büttner, S. 40.
6 Auch hier verweist de Vries nicht zufällig auf ewige Idylle (Gold) und Leid (Lanze). Vgl. Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, S.163 und 254f.
7 Für Edmund Burke ist Obskurität wirkungsvoller als Klarheit, wenn es darum geht, ein Gefühl von Ewigkeit und Unendlichkeit zu vermitteln. Vgl. Edmund Burke, A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757), hrsg. von James T. Boulton, London 1967, S.58 ff.
Was in Jochen Wagners Arbeit Heiligtum wie ein Fehler aussieht, ist in Wahrheit das Bewahren eines kreisrunden Stückchens Utopie. Indem er nämlich über mehrere Monate Herman de Vriesʼ Sanctuarium mit einem handelsüblichen Flachbettscanner einscannt, sucht er genau die Grenze ab, die das Außen konstitutiv für das von de Vriesʼ heilig befundene Innere anerkennt.1
Denn als de Vries 1993 nahe des Stuttgarter Pragsattels ein Stück Land umzäunt, macht er das mit mehrfachem utopischem Verweis: Zum Einen legt de Vries einen Ort an, in dem die Natur anarchisch wachsen darf. Weil er die Natur im Namen der Kunst bändigt, räumt er ihr den Schutz ein, sich frei zu entfalten. So macht – paradoxerweise – erst die Kulturdiesen Ort zum Sanctuarium für die Natur. 2
Zum Anderen bedient de Vries sich einem der menschlichen Kultur so vertrauten Bild, das dieses Sanctuarium buchstäblich zum Heiligtum macht: Ob im antiken Gewand als locus amoenus auf das Elysium, oder im christlichen Gewand als hortus conclusus auf den Garten Eden 3 verweisend, verspricht eine von allen irdischen Schmerzen befreite Natur idylle unendlichen Frieden. 4 Den kann man am Pragsattel gut brauchen. Irdischer Schmerz ist hier allgegenwärtig. Feinstaub, Lärm und Hektik machen ihn sinnbildlich zum Dorn im Auge Stuttgarts – zur paradiesfreien Zone und damit zum unmittelbaren Gegenstück von de Vriesʼ Sanctuarium. 5
Doch nicht nur der Prozess des Scannens macht das Bewahren dieser kleinen Utopie so eindrücklich. Vorallem die »Fehler«, die bei diesem Prozess entstehen, unterstützen die von de Vriesʼ suggerierte Lesart, denn wie alle Scanarbeiten von Jochen Wagner erscheint auch diese entrückt: Das mysteriöse Schwarz wirkt verlockend; die sich um de Vriesʼ stählernen Zaun rankenden Pflanzen wie aus einer anderen Welt. Dies betonen so wohl die ins Violett changierenden Blätter zusammen mit dem Gold der lanzenartigen Zaunspitzen 6 als auch verschwommene Stellen, die umso intensiver das Dunkel, aus dem die Natur hervortritt, als obskur ausweisen. 7 De Vriesʼ Wunschbild der wilden, sich nun seit mehr als zwanzig Jahren ihren Raum zurück erobernden Natur bekommt hier noch stärker eine irreale, ja beinahe endzeitliche Färbung. Außerdem verraten diese unwirklich erscheinenden Scans erst zusammen gesetzt ein Bild des großen Ganzen (Heiligen), vermögenes aber nie in seiner vollenPracht abzubilden. Und so machen gerade diese vermeintlichen Fehler nicht nur in dieser Scanarbeit von Jochen Wagner das regelrechte Absuchen zum utopischen Einfangen eines Moments für die Ewigkeit.
Text: Nicola Höllwarth
1 Vgl. Norbert Wokart, »Differenzierungen im Begriff ›Grenze‹. Zur Vielfalt eines scheinbar einfachen Begriffs«, in: Richard Faber und Barbara Naumann (Hrsg.), Literatur der Grenze – Theorie der Grenze,Würzburg 1995, S. 275 – 289, hier S. 279.
2 Etymologisch ist aus dieser schützenden Umfriedung das Wort »Garten« abgeleitet. De Vries umfriedet aber nicht den kultivierten Landschaftsaum, um ihn von der wilden Natur abzutrennen, sondern grenzt im Gegenteil wilde Natur ein, um sie vom kultivatorischen Eingriff des Menschen zu schützen. Streng genommen ist de Vriesʼ Sanctuarium also kein Garten. Vgl. NilsBüttner, Gemalte Gärten: Bilder aus zwei Jahrtausenden, München 2008, S. 17.
3 Gemäß der Bibel ist der Ursprungsort der Menschheit das Paradies: Ein Garten. Dass allgemein für einen umgrenzten Gartenbezirk im Lateinischen das Wort paradisus verwendet wird, bestärkt zudem die sinnbildliche Verbindung zwischen Paradies und Garten. Vgl.Büttner, S. 17.
4 Vgl.Hildegard Kretschmer, »Paradies/Garten Eden«, Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, Stuttgart 2016, S. 314; Vgl. auch Büttner, S. 17, 26 und 36.
5 Wie stachelige Disteln sind Dornen Symbol des irdischen Schmerzes, Mühsals und Leidens. Insbesondere im Kontrast zu marianischen Sinnbildern verweisen sie auf ein sündhaftes Leben: So wachsen – laut Legende – der Rose erst nach dem Sündenfall Dornen; und so wird die Jungfrau Maria als »Lilie unter Dornen« beschrieben. Vgl. »Dorn, Dornzweig«, Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, S.84; Vgl. auch Büttner, S. 40.
6 Auch hier verweist de Vries nicht zufällig auf ewige Idylle (Gold) und Leid (Lanze). Vgl. Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, S.163 und 254f.
7 Für Edmund Burke ist Obskurität wirkungsvoller als Klarheit, wenn es darum geht, ein Gefühl von Ewigkeit und Unendlichkeit zu vermitteln. Vgl. Edmund Burke, A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757), hrsg. von James T. Boulton, London 1967, S.58 ff.